FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 3/2016
Vittel statt Flusswasser Ähnlich argumentiert Michael Thie- mermann, Leiter der Fachhochschule der Wirtschaft in Marburg und Ge- schäftsführer des Kölner Kivi-Instituts, das Daten aus der Versicherungswirt- schaft analysiert. „Damals hat niemand aus der Branche der Garantie einen materiellen Wert zugeschrieben. Es schien einfach ausgeschlossen, dass die Zinsen so tief fallen und auf diesem Niveau verharren könnten.“ Noch nach dem Jahrtausendwechsel betonten viele Anbieter stolz, wie viele neue Lebens- versicherungen sie verkaufen konnten. Damals gilt dieses Geschäft, anders als das mit Schaden- oder Unfallpolicen, als besonders stabil. Heute wären die Vorstände froh, wenn sie Zurückhaltung geübt hätten. „Ich vergleiche die Zeiten, zu denen Versicherer sieben Prozent verdienten und vier Prozent versprachen, gern mit einem Frischwasserbach, der an einem Haus vorbeifließt“, sagt Thiemermann. Solange der Bach Wasser führt, versorgt sich der Haushalt ganz selbstverständ- lich damit, ohne sich Gedanken darüber zu machen. „Erst wenn der Bach aus- zutrocknen beginnt und man plötzlich Vittel im Supermarkt kaufen muss, weiß man den Wert des Wassers zu schätzen.“ „Eine schwere Grippe“ Um im Bild zu bleiben: Bei vielen Anbietern ist der Bach vor der Haustür schon zum trüben Rinnsal verkommen, und der Supermarkt erhöht die Vittel- Preise. Im Schnitt verdienten die Le- bensversicherer Zahlen des Branchen- verbandes GDV zufolge im vergange- nen Jahr zwar noch 4,5 Prozent auf ihre Kapitalanlagen – das aber nur, weil die Anbieter im Kurs gestiegene Anleihen mit Gewinn verkaufen konnten (siehe Grafik rechts). Legen sie das Geld neu an, bekommen sie kaum noch Zinsen. Die Rendite ihrer Anlagen sinkt viel schneller als der Garantiezins im Bestand. Die Folge: Einige Versicherer laufen sehenden Auges in eine Unter- deckung hinein. Um keine Missverständnisse aufkom- men zu lassen: Zahlreiche Anbieter sind stark genug, um noch viele Nullzinsjah- re überstehen zu können. Bei anderen aber könnte es schon bald eng werden. „Viele Lebensversicherer haben eine schwere Grippe“, ließ sich Reiner Will, Geschäftsführer der Ratingagentur Assekurata, im „Handelsblatt“ zitieren. Die Lasten innerhalb der Branche sind höchst ungleich verteilt. Assekurata zu- folge liegt der Garantiezins im Bestand im Schnitt derzeit bei knapp unter drei Prozent. Es gibt aber eine Handvoll An- bieter, die auf jeden zweiten bis dritten ihrer Verträge vier Prozent bezahlen müssen – und das auf Jahre hinaus. Felsenfeste Garantie? Was also passiert, wenn ein Versiche- rer es absehbar nicht mehr schafft, seine Verpflichtungen zu erfüllen? Zunächst kann er selbst Maßnahmen ergreifen, um gegenzusteuern. Einige schreibt der Gesetzgeber sogar vor. Hilft alles nichts, kommt die Bafin ins Spiel. Die Aufse- her haben ein großes Instrumentarium zur Hand, um einen strauchelnden Lebensversicherer zu sanieren. Die we- nigsten dieser Möglichkeiten dürften den Kunden bekannt sein. Die meisten von ihnen halten die Garantien für fel- senfest – doch das sind sie nicht. Um eine drohende Unterdeckung abzuwenden, kann ein starker Mutter- konzern seine Lebensversicherungstoch- ter natürlich mit frischem Kapital aus- statten. Das ist ein geräuschloser, aber auch sehr teurer Weg. Zu beobachten sind solche Kapitalerhöhungen derzeit vor allem mit Blick auf Solvency II. Diese EU-Eigenkapitalrichtlinie legt schonungslos offen, wie es um die Sol- venz der Anbieter bestellt ist. Ab dem kommenden Jahr werden Zahlen zu ein- zelnen Versicherern veröffentlicht, da möchte niemand zu schlecht aussehen. 295 www.fondsprofessionell.de | 3/2016 Enorm zinsabhängig Kapitalanlage der deutschen Lebensversicherer Den Löwenanteil der Kapitalanlagen deutscher Versicherer machen Festverzinsliche aus. Quelle: GDV | Stand: 31.12.2015 Renten 87,3 % Aktien 4,3 % Beteiligungen: 2,4 % Sonstige 2,2 % Immo- bilien 3,9 % Einst über acht Prozent Mitte der 1980er-Jahre verdienten Lebensversicherer mit ihren Anlagen im Schnitt über acht Prozent. Seither sinkt die Rendite. * Sondereffekt durch verstärkte Realisierung von Bewertungsreserven | Quelle: GDV 2015 2010 2005 2000 1995 1990 1985 1980 6,71 % 4,52 %* 10 % 8 % 6 % 4 % 2 % 0 % Nettoverzinsung der Kapitalanlagen in der Lebensversicherung Im Sinkflug Das Kapitalmarktumfeld zwingt die Versicherer dazu, die laufen- de Verzinsung immer schneller dem Garantiezins anzunähern. *Durchschnitt über alle Tarife | **gewichteter Durchschnitt Quelle: Assekurata 2015 2014 2013 2012 2011 2010 2009 2008 4,34 % 3,42 % 3,01 % 3,33 % 5 % 4 % 3 % 2 % 1 % 0 % Garantiezins im Bestand** Laufende Verzinsung*
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