Die Lockerung der Schuldenbremse und die Einrichtung eines Sondervermögens Infrastruktur haben die europäischen Aktienmärkte euphorisiert. Die Erwartung dominiert, dass das staatliche Investitionsprogramm von 500 Milliarden Euro über zwölf Jahre die stagnierende deutsche Wirtschaft nachhaltig belebt. Ob dieser Optimismus berechtigt ist oder die Ausgabenoffensive nur zu einem konjunkturellen Strohfeuer führt, hängt nach Einschätzung von Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management, von begleitenden Strukturreformen ab.

Strukturelle Probleme überwinden
Er sagt: "Staatliche Investitionen allein reichen nicht aus. Nur wenn es gelingt, durch Reformen und Deregulierung die Kostenbelastung der Unternehmen zu senken, kann aus einem schuldenbasierten Strohfeuer ein nachhaltiges konjunkturelles Freudenfeuer entstehen." Reale Vermögenswerte dürften aus Gallers Sicht bei einer schuldenbasierten Wirtschaftspolitik am stärksten profitieren.

Tatsächlich habe Deutschland einen erheblichen Investitionsrückstand aufzuholen. Der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt sei in den vergangenen 30 Jahren von 25,6 Prozent auf 21,8 Prozent gesunken. "Viele Bereiche der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur haben durch jahrelange Unterinvestition an internationaler Attraktivität eingebüßt", erklärt Galler. Hinzu kämen die enormen Investitionsbedarfe in die Energieinfrastruktur durch die KI-Revolution und die Dekarbonisierung der Wirtschaft.

Produktivität stagniert
Auch der frühzeitige Atomausstieg und der Krieg in der Ukraine mit der folgenden Energiekrise würden der Industrie schwer zu schaffen machen. Verschärft werde die Situation durch den hohen CO2-Preis in der EU. "Dass die energieintensive Industrie seit 2017 um 20 Prozent geschrumpft ist, überrascht daher nicht", so der Kapitalmarktexperte.

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft habe in den vergangenen Jahren auch durch stark gestiegene Lohnkosten gelitten. "Ein starker Lohnanstieg ist unproblematisch, solange die Arbeitsproduktivität entsprechend zunimmt. Aber genau hier liegt das Problem. Seit Ende 2017 stagniert in Deutschland die Produktivität", analysiert Galler.

Portfolio-Implikationen: Reale Werte profitieren, Anleihen unter Druck
Die schuldenbasierte Wirtschaftspolitik hat nach Einschätzung von Galler klare Auswirkungen auf Anlegerportfolios. Auf den Rentenmärkten werde der größere staatliche Finanzierungsbedarf mit zunehmender Besorgnis betrachtet. Steigende Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen trotz EZB-Zinssenkungen seien ein deutliches Signal für diese Entwicklung.

"Im Investmentportfolio dürfte eine schuldenbasierte Wirtschaftspolitik vorteilhaft für reale Vermögenswerte wie Aktien, Transport und Infrastruktur sein", prognostiziert Galler. Für Sparbuch und Anleihen hingegen sei das Schleifen der Schuldenbremse aufgrund der Inflationsgefahren keine gute Nachricht. (jh)