Europas Börsen auf Rekordjagd: Droht nach der Wahl das böse Erwachen?
Am Sonntag wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Im Vorfeld preisen die europäischen Aktienmärkte ein vielleicht zu optimistisches Szenario ein, mahnen Anlageexperten. Dies berge das Risiko einer bösen Überraschung.
Sowohl der Dax als auch der Stoxx 600 haben in diesem Jahr ein Rekordhoch nach dem anderen erreicht – auch vor dem Hintergrund der Erwartung, dass in Berlin eine Regierung mit einer soliden Mehrheit gebildet wird, die der deutschen Wirtschaft wieder auf die Beine hilft und die notwendigen Reformen auf den Weg bringt. Dies allerdings könnte sich als kurzsichtig erweisen, warnen mehrere Investmentstrategen.
"Es besteht ein klares Risiko, dass das Ergebnis nicht so marktfreundlich ausfällt wie derzeit erwartet", sagt beispielsweise Daniel Murray, stellvertretender Chefanlagestratege bei EFG Asset Management. "Wenn es etwas gibt, was wir in Bezug auf Wahlergebnisse gelernt haben, dann ist es, dass sie viel weniger vorhersehbar geworden sind."
Wird die Schuldenbremse gelockert?
Bei den Anlegern nähren die Wahlen die Hoffnung auf die Lockerung der Schuldenbremse. Auch Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zeigte sich dafür offen. Zunächst müsse Deutschland jedoch Bürokratie und Ausgaben abbauen, bevor über weitere Schulden gesprochen werden könne. Eine Koalition zwischen CDU/CSU und Sozialdemokraten oder Grünen – die ebenfalls Befürworter einer höheren Verschuldung sind – wird als das marktfreundlichste Ergebnis angesehen.
Meinungsumfragen deuten jedoch auf eine schwierige Regierungsbildung hin, denn die etablierten Parteien schließen eine Zusammenarbeit mit der in Teilen rechtsextremen AfD aus. Schon nach der Bundestagswahl 2021 zog sich die Regierungsbildung in Berlin über zwei Monate hin. In dieser Zeit kann es an den Börsen zu Turbulenzen kommen, wenn Befürchtungen um die politische Stabilität in Europas größter Volkswirtschaft aufkommen.
"Ein starkes Ergebnis für die AfD könnte das Szenario ändern"
Zur Lockerung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ist sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. "Sie könnte für Aktien ein großer Katalysator sein und der deutschen Wirtschaft enorm zugutekommen", sagt Aneeka Gupta, Chefin des Bereichs Makro-Analyse bei Wisdom Tree. "Ein starkes Ergebnis für die AfD könnte dieses optimistische Szenario jedoch ändern."
In einer Umfrage von Morgan Stanley unter institutionellen Investoren gab eine Mehrheit an, dass mit einer Revision der Schuldenbremse zu rechnen sei. Rund 46 Prozent der Befragten warnten davor, dass auch ein Wahlausgang möglich sei, der eine expansive Fiskalpolitik verhindern könnte. In Meinungsumfragen überwiegen inzwischen die Befürworter einer Lockerung der Schuldenbremse.
Deutschlands Aktienmarkt ist plötzlich Anlegers Liebling
Der Dax hat seit seinem Tief Ende 2022 um rund 76 Prozent zugelegt, da die robuste Weltwirtschaft die exportorientierten Indexwerte beflügelte. Bei den Einzelwerten sorgte vor allem der Softwareentwickler SAP für Auftrieb. Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz im November überraschend die Ampelkoalition platzen ließ und Neuwahlen anstrebte, baute der Dax seinen Vorsprung weiter aus.
Eine Umfrage der Bank of America im letzten Monat ergab, dass Deutschland zum bevorzugten Aktienmarkt in Europa geworden ist. Professionelle Anleger erwarten einen Schub durch Konjunkturmaßnahmen des Staates. Im Euroraum-Vergleich kann sich Deutschland seit Langem zu den günstigsten Konditionen verschulden, da Anleger die Disziplin bei der Neuverschuldung honorieren. Viele Anleger gehen deshalb davon aus, dass die Bundesregierung – im Gegensatz zu vielen anderen Industrieländern – in der Lage wäre, Investitionen über eine höhere Neuverschuldung anzukurbeln. Am Terminmarkt scheint eine Ausweitung der Anleiheemissionen bereits eingepreist zu werden.
"Die Enttäuschung könnte groß sein"
Der weit verbreitete Optimismus bedeutet jedoch, dass jeder mögliche Schock zu einem Ausverkauf bei Aktien führen könnte. Marktbeobachter verweisen unter anderem auf den Relative-Stärke-Index, der deutlich in den "überkauften Bereich" geklettert ist, was Korrekturrisiken anzeigt. Einige professionelle Investoren sind daher der Meinung, dass selbst ein Sieg von Merz bei den Bundestagswahlen an den Finanzmärkten keine weitere Rally auslösen wird. Bemühungen zur Reformierung des Steuerrechts dürften zu zaghaft ausfallen, um das Wirtschaftswachstum markant voranzutreiben, so eine ihrer Befürchtungen.
Am Markt herrsche ein "ziemlich starker Konsens", dass Merz die nächste Regierung führen werde, zudem habe sich der Dax "extrem gut entwickelt", meint Edward Cole, Leiter des Bereichs Multi-Strategy Equities bei der Man Group. "Selbst wenn Merz die nächste Regierung anführt, könnte die Enttäuschung darüber groß sein, wie lange es dauert, bis sie zustande kommt." (fp/Bloomberg)