Europäische Aktien stehen laut Einschätzung mehrerer Wall-Street-Strategen vor dem besten Jahr im Vergleich zu US-Papieren seit mindestens 20 Jahren. Der Stoxx Europe 600 soll bis Jahresende rund 554 Punkte erreichen – das entspricht einem Plus von etwa einem Prozent gegenüber dem Schlusskurs vom Freitag (16.5.), wie eine "Bloomberg"-Umfrage unter 20 Marktstrategen zeigt.

JP Morgan und Citi besonders optimistisch
JP Morgan prognostiziert mit 580 Punkten das höchste Ziel unter den Befragten. Die Citigroup rechnet mit 570 Punkten, gestützt auf weniger Pessimismus bei den Unternehmensgewinnen. Beide Banken gehen hingegen davon aus, dass der S&P 500 im weiteren Jahresverlauf an Boden verlieren wird.

Die Spanne der Zieldifferenz bedeutet laut JP Morgan, dass europäische Aktien 2025 den US-Markt um 25 Prozentpunkte übertreffen könnten – ein Rekord. Auch Citi sieht die höchste Outperformance seit 2005. "Wenn wir den Höhepunkt der Gewinnunsicherheit bereits hinter uns haben, könnte dies die Voraussetzungen für weitere Aufwärtsbewegungen und eine mögliche Neubewertung schaffen, insbesondere in den stärker gebeutelten zyklischen Sektoren", so Citi-Strategin Beata Mantey.

Fondsmanager schichten um
Der neue Optimismus ist eine Kehrtwende: Anfang des Jahres wurde erwartet, dass europäische Aktien zurückbleiben. Doch der Stoxx 600 konnte zulegen – auch begünstigt durch die Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland sowie solide Gewinne, die Anleger aus zollbelasteten US-Titeln in europäische Papiere trieb.

Eine aktuelle Umfrage der Bank of America zeigt: Netto 35 Prozent der Fondsmanager halten europäische Aktien übergewichtet, während das Engagement in US-Werten auf ein Zwei-Jahres-Tief gesunken ist.

Unternehmensgewinne übertreffen Erwartungen
Laut "Bloomberg Intelligence" stiegen die Gewinne der MSCI-Europe-Unternehmen im ersten Quartal um 5,3 Prozent, obwohl Analysten einen Rückgang um 1,5 Prozent erwartet hatten. Ein Citigroup-Index belegt zudem, dass weniger Analysten ihre Prognosen für Europa senken – ein weiterer positiver Impuls.

Die Marktaussichten in den USA bleiben dagegen verhalten. Eine "Bloomberg"-Umfrage geht davon aus, dass der S&P 500 zum Jahresende bei durchschnittlich 6.001 Punkten liegen wird – kaum verändert gegenüber dem jüngsten Stand.

Die diesjährige Rally des Stoxx 600 (+8,5 %) hat auch Fragen zur Bewertung aufgeworfen: Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 14,6 liegt der Index über dem 20-Jahres-Median (13,5), aber deutlich unter dem S&P-500-KGV von fast 22.

Goldman-Sachs-Strategin Sharon Bell sieht hier weiteres Potenzial: "Wir stellen außerdem fest, dass die Inflation in Europa in diesem Jahr weiter zurückgehen dürfte und dass ein enger Zusammenhang zwischen niedrigerer Inflation und höheren Durchschnittsbewertungen besteht."

Mehrheit erwartet weiteres Plus – wenige warnen
Nur sechs Banken in der "Bloomberg"-Umfrage – Bank of America, Dekabank, ING, Panmure Liberum, Société Générale und TFS Derivatives – rechnen mit einem Rückgang des Stoxx 600 um mehr als zwei Prozent.

"Die Unsicherheit im Zusammenhang mit den Zöllen erschwert die Aussichten zusätzlich, da viele Unternehmen zögern, klare Prognosen abzugeben", betont beispielsweise Société-Générale-Stratege Roland Kaloyan. Auch UBS-Stratege Gerry Fowler warnt vor kurzfristigen Risiken, sieht jedoch mittelfristig Aufwärtspotenzial: "Für weitere Gewinne müssen wir eine Phase der Unsicherheit überwinden, die das Wachstum des Gewinns pro Aktie in diesem Jahr wahrscheinlich bei null oder leicht darunter halten wird." (mb/Bloomberg)