"Volle Handlungsfreiheit": EZB-Rat denkt über größere Zinssenkung nach
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird angesichts verschärfter Finanzierungsbedingungen und Risiken für das Wirtschaftswachstum die Zinsen wohl weiter senken müssen, meint Olli Rehn, Mitglied im Rat der Notenbank. Dabei sollten auch größere Schritte nach unten nicht per se ausgeklammert werden.
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird die Zinsen nach Ansicht von Ratsmitglied Olli Rehn wahrscheinlich weiter senken müssen und sollte dabei größere Schritte nach unten nicht ausschließen. Aufgrund der "allgegenwärtigen Unsicherheit", die sich aus Geopolitik und Handelskonflikten ergebe, müssten sich die Währungshüter weitere Maßnahmen offenhalten, sagte der finnische Notenbankchef im Interview mit der Nachrichtenagentur "Bloomberg". Er wies darauf hin, dass sich die Finanzierungsbedingungen in jüngster Zeit verschärft hätten und sich die Risiken für das Wirtschaftswachstum allmählich bemerkbar machten.
"Es ist wirklich wichtig, dass wir uns volle Handlungsfreiheit bewahren, was bedeutet, dass wir nicht aufgrund eines angenommenen neutralen Zinssatzes bestimmte Schwellenwerte festlegen und auch nicht von vornherein einen bestimmten Umfang der Zinssenkung ausschließen", erklärte Rehn. "Dies ist die Zeit für eine agile und aktive Geldpolitik", sagte er.
EZB muss flexibel bleiben
Nach der siebten Senkung des Einlagensatzes seit Juni 2024 in der vergangenen Woche, der sich nun auf 2,25 Prozent beläuft, betonen die Währungshüter der EZB die Notwendigkeit von Flexibilität. Bislang lagen alle Zinssenkungen bei einem Viertelpunkt. Analysten erwarten "Bloomberg" zufolge, dass es 2025 noch eine weitere Rücknahme in dieser Größenordnung geben wird. Die Finanzmärkte rechnen hingegen mit zwei oder drei weiteren Senkungen im laufenden Jahr.
Ein wichtiger Faktor für die Entscheidung über eine weitere Senkung oder eine Pause auf der Juni-Sitzung werden die neuen Prognosen der EZB-Ökonomen für die Wirtschaft und die Inflation sein. "Wenn die Inflation im Juni unter unser mittelfristiges Inflationsziel von zwei Prozent fallen sollte, dann wäre eine weitere Zinssenkung die richtige Reaktion”, sagte Rehn. Selbst wenn dies nicht der Fall sei, gebe es jedoch kaum gute Argumente für eine Pause.
Von Sitzung zu Sitzung entscheiden
"Wir müssen uns auch die Wachstumsaussichten und die finanziellen Bedingungen ansehen", befand der EZB-Rat. Letztere hätten sich aufgrund der Turbulenzen, die durch den Handelskonflikt der US-Regierung mit China und dem Rest der Welt ausgelöst wurden, verschärft. Gleichzeitig hätten sich die Risiken, die im März im Rahmen der EZB-Wirtschaftsprojektionen identifiziert worden waren, "im Großen und Ganzen materialisiert".
Vor diesem Hintergrund werde die EZB eine umfassende Bewertung vornehmen und über die Zinssätze entscheiden. "Es liegt so viel Unsicherheit in der Luft, dass wir von Sitzung zu Sitzung entscheiden müssen", sagte Rehn. Ob eine Senkung um 50 Basispunkte in Betracht gezogen wird, hänge von den mittelfristigen Inflationsaussichten ab und davon, wie viel schlechter oder besser die Wachstumsaussichten sein werden. (Bloomberg/am)