Die "Lehman-Oma" steht sinnbildlich für alles, was nach Meinung vieler Kritiker bei der Anlageberatung schieflief: Sparkassen und andere Banken hatten betagten Kunden in den Jahren vor der Finanzkrise angeblich hochspekulative Derivate der US-Investmentbank Lehman Brothers aufgeschwatzt, natürlich aus reiner Provisionsgier. Jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß, dass diese Anschuldigungen überzeichnet waren. Dennoch, der Schaden für die Institute war enorm, nicht nur fürs Image, sondern auch für die Finanzen – sei es, weil die Banken tatsächlich Schadenersatz leisten mussten oder sich anderweitig mit ihren Kunden verglichen.

Ja, die Institute hatten Lehman-Derivate verkauft, aber dabei handelte es sich meist um Garantiezertifikate, nicht um spekulative Produkte. Dass die Papiere ein Emittentenrisiko tragen, wurde nicht nur den allermeisten Anlegern erst dann bewusst, als Lehman Brothers tatsächlich Insolvenz anmeldete, sondern auch vielen Sparkassenvorständen und Beratern. Eine der führenden Investmentbanken rutscht in die Pleite? Das war bis zum September 2008 ein sehr theoretisches Risiko.

Verlust trotz "Airbag"
Die Sparkassen haben daraus gelernt: Sie bieten kaum noch Zertifikate verbundferner Institute an, sondern setzten auf Papiere "ihrer" Deka, LBBW oder Helaba. Auch die Volks- und Raiffeisenbanken empfehlen fast ausschließlich Papiere des verbundeigenen Zentralinstituts DZ Bank. Schlagzeilen wie nach der Lehman-Pleite möchten sie nicht noch einmal lesen. Der "Corona-Crash" dürfte nun aber dafür sorgen, dass die "Lehman-Oma" von einigen Medien trotzdem noch einmal aus dem Archiv geholt wird – und das nicht völlig unverschuldet.

Denn insbesondere die Sparkassen, aber auch die genossenschaftlichen Institute haben ihr Derivategeschäft in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut: Der Marktanteil ihrer Zentralinstitute liegt mittlerweile bei 68 Prozent, 20 Prozentpunkte höher als vor fünf Jahren. Insbesondere die Expresszertifikate erlebten einen wahren Boom, ihr ausstehendes Volumen hat sich auf Sicht von fünf Jahren mehr als verdreifacht. Diese Papiere bieten hohe Kupons und sehen in Nullzinszeiten daher attraktiv aus. Fällt der Kurs des Basiswerts allerdings allzu drastisch, drohen hohe Verluste.

Genau das ist nun passiert. Vor einigen Tagen rechnete der Branchen-Newsletter "Finanz-Szene.de" vor, wie stark zahlreiche Expresszertifikate der Deka und DZ Bank, die über Sparkassen und genossenschaftliche Institute vertrieben wurden, in den vergangenen Wochen an Wert verloren haben – einige sogar stärker als der zugrundeliegende Index. Die Emittenten betonen zwar, dass die Papiere für einen Anlagehorizont bis zur Endfälligkeit konzipiert wurden und daher die Chance besteht, dass die Zertifikate ihre Kursverluste aufholen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass viele Kunden mit den Papieren, die wohlklingende Namenszusätze wie "Airbag" oder "Relax" tragen, schmerzhafte Verluste davontragen werden.

Juristischer Ärger droht wohl kaum, aber ein Verlust an Kundenvertrauen
Die "Süddeutsche Zeitung" zitiert in einem Artikel (Schlagzeile: "Luftige Versprechen") den Europaabgeordneten Sven Giegold mit der Forderung, Sparkassen und Volksbanken müssten "den Vertrieb von Zertifikaten mit großen Verlustrisiken sofort einstellen". Im Internet empfehlen erste Anlegeranwälte betroffenen Kunden schon, Schadenersatzansprüche prüfen zu lassen.

Aussicht auf Erfolg dürften solche Klagen allerdings nur im Einzelfall haben. Mifid II hat die Anlageberatung derart streng reguliert, dass eine fehlerhafte Risikoaufklärung die krasse Ausnahme sein wird. Ein Kunde, der behauptet, ihm seien die Risiken seiner Expresszertifikate oder Aktienanleihen nicht klar gewesen, wird schnell in Argumentationsnöte geraten. Ein zweiter "Lehman-Oma"-Skandal steht daher nicht vor der Tür. Das ändert aber nichts daran, dass den Sparkassen und Volksbanken wegen ihres Derivategeschäfts nun ein weiterer Schaden an Image und Kundenvertrauen droht.