Thomas Richter, der Hauptgeschäftsführer des deutschen Fondsverbands BVI, war Mitglied der "Fokusgruppe", die im Juli 2023 ihren Abschlussbericht mit Empfehlungen für eine Überarbeitung der privaten Altersvorsorge vorgelegt hat. Über ein Jahr später präsentierte das Bundesministerium der Finanzen (BMF) nun den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der steuerlich geförderten privaten Altersvorsorge, kurz pAV-Reformgesetz. In seinem Büro in Frankfurt hat Richter FONDS professionell ONLINE erklärt, warum das darin vorgesehene Altersvorsorgedepot geradezu revolutionär ist – und wo er Gefahren für das neue Produkt sieht.


Herr Richter, Kernpunkt des Referentenentwurfs ist das Altersvorsorgedepot. Wie bewerten Sie den Plan, ein solches Produkt einzuführen?

Thomas Richter: Das ist ein Meilenstein, ein Paradigmenwechsel. Wir haben in Deutschland eine Situation, die es in anderen Ländern schon lange nicht mehr gibt: eine Dichotomie zwischen Vermögensbildung und Altersvorsorge. Bislang zählten zur Altersvorsorge nur Produkte, die mit einer Garantie versehen sind und eine lebenslange Rente bieten. Alles andere gilt als Vermögensbildung. Die Politik hat stets die Ansicht vertreten, dass Altersvorsorge wichtig ist und gefördert werden muss. Vermögensbildung wurde quasi als Privatvergnügen eingestuft, das der Staat nicht zu unterstützen braucht. Das ist jetzt vorbei, denn staatlich geförderte Altersvorsorge soll künftig auch ohne Garantien und lebenslange Rente möglich sein. Damit schließen wir zu internationalen Verhältnissen auf. Das ist das größte Verdienst des Gesetzentwurfs. 

Welche Punkte des Entwurfs finden Sie noch positiv?

Richter: Ich finde es gut, dass es künftig verschiedene Möglichkeiten geben soll, die Rente mit staatlicher Förderung aufzubessern. Im Versicherungs- und Fondsbereich können Sparer Produkte mit Garantien von 100 Prozent, 80 Prozent oder ohne Garantie wählen. Letzteres wären dann zum Beispiel Fondspolicen. Darüber hinaus gibt es das Altersvorsorgedepot. Hier besteht die Möglichkeit, dass der Sparer selbst oder der Anbieter die Anlagen auswählt. Dafür stehen Fonds bis Risikoklasse 5, Staatsanleihen und Aktien zur Verfügung. Außerdem gibt es noch das Referenzdepot. 

Würden Sie bitte kurz erläutern, worum es sich beim Referenzdepot handelt?

Richter: Das Referenzdepot ist sozusagen ein Standardprodukt. Wer es auflegt, muss dafür zwei Fonds anbieten. Einer muss in die Risikoklasse eins oder zwei eingestuft sein, dabei wird es sich um Geldmarkt- oder Rentenfonds handeln. Der andere Fonds muss sich in den Risikoklassen drei bis fünf bewegen, was auf Aktienfonds hinauslaufen dürfte. Das Referenzdepot muss immer auch online angeboten werden. Verbraucher sollen ein solches Produkt ohne Beratung abschließen können. Beim Altersvorsorgedepot, bei dem ein Sparer aus einer Vielzahl von Fonds wählen kann, ist Beratung wichtig. Die Grundidee ist sehr gut. Aber wie es in Deutschland so ist: Die Politik will schon genau regeln, wohin das Geld fließt.

Spielen Sie damit auf die im Referentenentwurf vorgesehene Zertifizierung von Altersvorsorgedepots an?

Richter: Ja, es muss erst ein staatlicher Stempel drauf, bevor ein Anbieter mit seinem Produkt an den Start gehen kann. Das heißt, er muss es beim Bundeszentralamt für Steuern genehmigen lassen. Das ist eine Welt, die Riester-Anbietern zwar vertraut ist, mit der viele andere Fondsgesellschaften bisher aber nie etwas zu tun hatten. Dann gibt es Zulagen für Geringverdiener. Das ist sozialpolitisch sicherlich das wichtigste Thema überhaupt. Diese Förderung muss selbstverständlich beantragt werden. Das heißt, der Anbieter eines Altersvorsorgedepots hat schon mal gleich mit der Zertifizierungsbehörde und der Zulagenbehörde zu tun. Und jetzt gibt es auch noch eine ganz neue Diskussion um die Frage, wie es sich verhindern lässt, dass ein Altersvorsorgedepot überspart wird.

Worum geht es dabei?

Richter: Ein großer Vorteil des Altersvorsorgedepots ist die nachgelagerte Besteuerung. Das heißt, solange kein Geld entnommen wird – und es kann ja frühestens ab einem Lebensalter von 65 Jahren ein Teil der Summe entnommen werden – fallen keine Steuern an. Nun könnten Anleger auf die Idee kommen, einen Großteil ihrer Aktiendepots in ein Altersvorsorgedepot zu überführen. Um das auszuschließen, wird im BMF wieder eine neue Vorschrift diskutiert. Hier eine neue Regel, da eine neue Regel – so ist Deutschland. Wir können keine einfachen Sachen machen. Aber die Politik muss aufpassen, dass sie diesen wirklich sehr guten Ansatz, den es jetzt gibt, nicht zu kompliziert gestaltet. Ich kann den Gesetzentwurf nicht hoch genug loben, aber es ist wirklich Vorsicht geboten, dass er nicht verbürokratisiert wird. Schließlich hat man sich dabei für ein freiwilliges System entschieden. 

Das bedeutet?

Richter: Wenn die staatlich geförderte Altersvorsorge nicht verpflichtend ist, sondern als freiwilliges System zum Ziel kommen soll, dann muss sie eine hohe Verbreitung finden. Das gelingt aber nur, wenn Sparer nicht durch komplexe Regeln gleich wieder abgestoßen werden. Die Förderung allein reicht nicht aus. Das Produkt Altersvorsorgedepot muss einfach sein.

Damit es eine hohe Verbreitung findet, müsste es im Idealfall außerdem für die Sparer kostengünstig und zugleich für den Vertrieb lohnenswert sein.

Richter: Ja, das wird eine Gratwanderung. Der Vertrieb  muss für seine Beratungsleistung bezahlt werden. Aber die Akzeptanz des Produkts würde durch zu hohe Kosten verringert. Da muss man die richtige Balance finden. Die Riester-Produkte haben nicht nur unter den niedrigen Zinsen, sondern auch unter den hohen Kosten einiger Anbieter gelitten. So etwas darf jetzt nicht wieder passieren.

Die Grünen wollen einen Kostendeckel einführen. Wäre das eine gute Idee?

Richter: Nein, wir haben schon ein negatives Beispiel für einen Kostendeckel, das Pan-European Personal Pension Product, kurz PEPP. Das Produkt hat einen Deckel von einem Prozent – und deswegen gibt es kaum Angebote. Das lässt sich zu diesen Kosten nicht vertreiben. Derartige Eingriffe in den Markt sind kontraproduktiv. Ich denke, der Wettbewerb wird schon dafür sorgen, dass die Kosten nicht in den Himmel wachsen. Schließlich kommen für das Altersvorsorgedepot auch ETFs in Frage, und eine Vergleichsplattform soll für alle Produkte hohe Transparenz schaffen.

Der Referentenentwurf ist zeitgleich in die Ressortabstimmung und in die Verbändeanhörung gegangen. Ein solches Vorgehen ist eher ungewöhnlich. Spricht es dafür, dass die Liberalen das Gesetz jetzt wirklich zügig durchziehen möchten?

Richter: Das weiß ich nicht. Aber ich finde es in Ordnung, wie es gelaufen ist. Es ist gut, dass das Thema jetzt vorankommt. Schließlich drängt die Zeit, denn das Gesetz muss bis Juni allerspätestens verabschiedet sein, vor der Sommerpause.

Immerhin wäre es eine große Chance für die Fondsbranche.

Richter: Selbstverständlich, denn das Gesetz würde für die Fondsgesellschaften zum ersten Mal Chancengleichheit mit den Versicherern herstellen. In der Vergangenheit war es immer so, dass Lebensversicherungen gesetzlich privilegiert und andere Anlageformen im Vergleich dazu diskriminiert wurden. Eine solche Diskriminierung ist im Entwurf nicht vorgesehen. Niemand muss sich in der Entnahmephase für eine Leibrente entscheiden, die Sparer haben Wahlfreiheit. Das ist, wie gesagt, einer der beiden revolutionären Punkte im Entwurf. 

Fragt sich nur, ob die Versicherer ihre Lobby-Maschinerie nicht noch einmal richtig anwerfen und am Ende verhindern werden, dass ein Gesetz in Kraft tritt, das in der staatlich geförderten Altersvorsorge keine Verrentungspflicht vorsieht.

Richter: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Lobby der Assekuranz noch mal richtig aufschwingt, liegt bei 100 Prozent. Die Versicherer sind ja in der Vergangenheit schon, wie ich finde, in brachialer Weise gegen die Wahlfreiheit vorgegangen. Schon allein die Wortwahl: Begriffe wie "Mogelpackung" und "Brandstifter" sind im politischen Wettbewerb doch eher unüblich. Die Branche hat offensichtlich wenig Vertrauen in ihr eigenes Produkt und will daher, dass der Gesetzgeber dem Sparer die Entscheidung abnimmt.

Aber könnten die Versicherer sich auch durchsetzen und die Wahlfreiheit kippen?

Richter: Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich. Damit würde man ja eines der wichtigsten Elemente der ganzen Reform zurücknehmen. Dann würde aus einer Reform ein Reförmchen. Nein, ich glaube schon, dass das Gesetz eine gute Chance hat, einschließlich der Wahlfreiheit verabschiedet zu werden. Dafür muss natürlich die Regierung durchhalten. Aber das ist sozusagen höhere Gewalt.

Vielen Dank für das Gespräch. (am)