Die Meldung schlug Ende März wie eine Bombe ein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte am 26. März in einem Urteil (Az. C 66/19) entschieden, dass Formulierungen in den Widerrufsbelehrungen von Immobilienkrediten und Kfz-Finanzierungen, die viele deutsche Kreditinstitute vergeben haben, nicht mit europäischem Recht vereinbar ist. Daher glaubten viele Juristen, dass auf Banken eine Widerrufswelle zurollen wird.

Dazu wird es aber wohl doch nicht kommen, denn der Bundesgerichtshof hat bereits am 31. März in zwei Beschlüssen in den meisten Fällen Widerrufen mit Bezug auf das EuGH-Urteil einen Riegel vorgeschoben. "Damit hat sich der 'Widerrufsjoker', den zahlreiche Anlegeranwälte auf Grund der Entscheidung des EuGH vom 26. März 2020 ausgerufen haben, sehr schnell und nicht unerwartet wieder erledigt", kommentiert Professor Peter Balzer von der Düsseldorfer Kanzlei Sernetz Schäfer Rechtsanwälte auf Anfrage von FONDS professionell ONLINE.

Kaskadenverweise vertoßen gegen EU-Recht
Der Hintergrund des Urteils und der Beschlüsse des BGH ist komplex: Ausgangspunkt des Urteils aus Luxemburg war eine Verhandlung vor dem Landgericht Saarbrücken in einem Streit zwischen einem Immobilienkreditnehmer und der Kreissparkasse Saarlouis über den Widerruf des Darlehens. Es ging um Klauseln in den entsprechenden Belehrungen. Ein Punkt war, ob die Formulierung in der Information, die Widerrufsfrist beginne "nach Abschluss des Vertrages, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach Paragraf 492 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch … erhalten hat" klar und verständlich ist, wie Rechtsanwalt Oliver Renner von der Stuttgarter Kanzlei Rechtsanwälte Wüterich Breucker schreibt.

Diese Verweise sind unter Juristen als sogenannte Kaskadenverweise bekannt. Die Richter in Luxemburg sind nun der Auffassung, dass dieser Kaskadenverweis gegen die 2010 in Kraft getretene EU-Richtlinie 2008/48 über Verbraucherkreditverträge verstößt. Diese schreibt vor, dass Kunden in "klarer, prägnanter Form" zu informieren seien.

"Gesetzesfiktion"
Das hört sich aus Verbrauchersicht gut an, da es ihnen eine Möglichkeit zum späteren Widerruf zu öffnen scheint. Es gibt aber einen Knackpunkt: Der deutsche Gesetzgeber hat 2010 in einem amtlichen Mustertext diesen Kaskadenverweis auf Paragraf 492 Absatz 2 BGB aufgenommen – und dadurch eine sogenannte "Gesetzfiktion" geschaffen. Banken, die mit Widerrufen auf Basis des EuGH-Entscheides konfrontiert werden, können sich also darauf berufen, dass sie sich an geltende deutsche Gesetze gehalten haben.

Genau das hat der BGH in einem der angesprochenen Beschlüsse (XI ZR 198/19) nun bestätigt: Banken haben sich dem BGH zufolge an die Vorgaben des deutschen Gesetzgebers gehalten, so dass sie den Kunden wirksam über sein Widerrufsrecht belehrt haben – unabhängig davon, ob das nationale Recht den Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie genügt oder nicht. Das oberste deutsche Gericht weist zudem darauf hin, dass der EuGH selbst mehrfach betont habe, dass die "Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra nationalem Recht" dienen darf. Der BGH kann daher angesichts der eindeutigen Rechtslage, die in Deutschland auf Grund der gesetzlichen Musterwiderrufsinformation besteht, keine Auslegung entgegen des Wortlauts dieser Regelungen vornehmen.

Nur wenige Ausnahmen
Ein noch bestehendes Widerrufsrecht des Kunden kann Anwalt Balzer zufolge nur in Betracht kommen, wenn die Bank die amtliche Musterwiderrufsinformation eigenständig geändert hat und ihr hierbei Fehler unterlaufen sind. "Dann kann sich die Bank eben nicht mehr auf die Gesetzlichkeitsfiktion berufen". Allerdings ist auch das in vielen Fällen fraglich: Es existieren Kredite, die nicht zwingend von der EU-Verbraucherkreditrichtlinie erfasst werden – etwa pfandrechtlich besicherte Wohndarlehen, bei denen der deutsche Gesetzgeber freiwillig die EU-Vorgaben erfüllte.

Hier stellt sich, unabhängig von der Gesetzesfiktion, auch die Frage, ob europäisches oder deutsches Recht gilt. Allerdings hat der BGH auch hier bereits entschieden: "Wie nationale Vorschriften auszulegen sind, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, (…), fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte", heißt es in Beschluss mit dem Aktenzeichen XI ZR 581/18.

Staatshaftung?
Davon zu trennen ist Balzer zufolge jedoch die Frage, ob gegebenenfalls eine Staatshaftung der Bundesrepublik Deutschland in Betracht kommt, weil die Vorgaben der Verbraucherkreditrichtlinie bei der Schaffung der gesetzlichen Musterwiderrufsinformation nicht hinreichend berücksichtigt worden sind. "Ein Anspruch des Kunden aus Staatshaftung kann aber jedenfalls nicht im Verhältnis zur kreditgebenden Bank geltend gemacht werden", so der Jurist.
 
Verbraucheranwälte kritisieren die Beschlüsse erwartungsgemäß: "Die Frage, ob die Verträge, die zwischen 2010 und 2016 geschlossen wurden, widerrufbar sind oder ob Schadensersatzansprüche auf Amtshaftung gegenüber der Bundesrepublik wegen fehlerhafter Umsetzung europäischen Rechts bestehen, bleibt auch nach den Entscheidungen des BGH, der sich nicht dem EuGH fügte, unklar und wird Raum für Verhandlungen zwischen Verbraucher und Banken schaffen und die Rechtsprechung in den nächsten Jahren beschäftigen“, schreibt etwa Anwalt Ralph Veil von der Kanzlei Mattil & Kollegen aus München. "Der schon seit Jahren als bankenfreundlicher BGH-Senat bekannte XI. Senat hat sich mal wieder auf die Seite der Banken geschlagen zum Nachteil der Verbraucher und dem Staat. Gleichzeitig hat der BGH verdeutlicht, wie wenig er von der Rechtsprechung des ihm in dieser Frage übergeordneten EuGH hält.“ (jb)