"Sowohl bei der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge als auch bei der betrieblichen Altersversorgung (bAV) sehen wir aus aktuarieller Perspektive dringenden Handlungsbedarf", so Susanna Adelhardt, die neue stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) bei einem virtuellen Pressegespräch der DAV am Donnerstag (4.5.). Damit bekräftigte die bAV-Expertin, im Hauptberuf bAV-Chefin bei Evonik Industries, ihre Aussagen auf der kürzlichen DAV-Jahrestagung in Dresden.

Demnach sei die Entwicklung zum Beispiel bei der staatlich geförderten Riesterrente stagnierend bis rückläufig. Tatsächlich werde die Notwendigkeit privater Vorsorge aber zunehmend wichtiger, auch weil die Demografie in allen Vorsorgeschichten des Altersvorsorgesystems Spuren hinterlässt. "Das gilt umso mehr, als trotz Zinswende die Realverzinsung durch die gestiegene Inflation deutlich negativ ist", betont Adelhardt. Ob das System angesichts wachsender demografischer Probleme letztlich scheitert, wollte die DAV so nicht bestätigen. Aktuare halten sich als Mathematiker traditionell an berechenbare Trends und Fakten. Dennoch lassen einige Anmerkungen an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig.

Anpassung der politischen Rahmenbedingungen definitiv nötig
Der finanzielle Aufwand der Menschen für eine kapitalgedeckte Vorsorge, die auch den negativen Realzins ausgleicht, steige dadurch. Staatlich geförderte Altersvorsorge im Kollektiv sei wichtiger denn je, da sie mit lebenslang zusätzlicher Rentenzahlung im Alter dazu beiträgt, die Folgen der demografischen Entwicklung auf den Einzelnen abzudämpfen. "Es braucht definitiv eine Anpassung der politischen Rahmenbedingungen", fordert die Aktuarin. Der Abbau bürokratischer Hürden wie auch eine Erhöhung der Ertragsaussichten, etwa durch abgesenkte Garantien, seien dringend erforderlich, um das Altersvorsorgesystem zukunftsfest zu machen.

Mehr Verbreitung der bAV mit ihren kollektiven Vorzügen sei gerade in Klein- und Mittelbetrieben nötig, doch das Gesamtbudget der Firmen ist begrenzt, warnte Adelhardt. Dadurch sei die derzeitige Ausgestaltung der bAV nicht generationengerecht. "Arbeitgeber haben nur einen bestimmten Dotierungsrahmen und damit ein begrenztes Budget für die bAV-Versorgung zur Verfügung, der bereits für die aktuelle Rentnergeneration in großen Teilen aufgewendet wird", erklärt die Expertin. Da man diesen Dotierungsrahmen nicht willkürlich verändern könne, sei es wichtig, dem Problem der geringeren Versorgung jüngerer Generationen mit unterschiedlichen Eingriffen zu begegnen.

Aktuelle bAV-Ausgestaltung nicht generationengerecht
Hintergrund: Für mehr Generationengerechtigkeit müsste an alten bAV-Zusagen etwas abgezweigt werden zugunsten der Jungen. Das Arbeitsrecht stehe aber dagegen, da arbeitsrechtliche Zusagen für die gesamte Dauer vorgegeben sind und Anpassung nach unten kaum möglich ist. "Handeln ist hier überfällig", so Adelhardt. Sie regte an, Veränderungen am Aufsichtsrecht vorzunehmen. Dieses schreibt derzeit vor, dass Pensionskassen ständige Bedeckung auch während der Ansparphase gewährleisten müssen, obgleich eine vorzeitige Auszahlung nur die absolute Ausnahme darstellt. "Auch hier sehen wir Reformbedarf", so Adelhardt. "Es ist doch entscheidend, dass die Mittel zum Fälligkeitszeitpunkt zur Verfügung stehen und nicht in allen Jahren und Jahrzehnten davor."

Die aktuellen Aufsichtspflichten zur dauernden Erfüllbarkeit führen bei vorübergehend negativer Kapitalmarktentwicklung zu Umschichtungen in risikoarme Anlagen – zu Lasten des Ertrags und damit zu Lasten der späteren Rente. Mit anderen Vorschriften ließe sich der Faktor Zeit als zusätzlicher Risikopuffer im Sinne aktueller Arbeitnehmer nutzen, um deren Rentenaussichten zu verbessern.

Lebensversicherer profitieren erst mittelfristig von gestiegenen Zinsen
Apropos Rendite: "Eine marktweite und signifikante Erhöhung der Überschussbeteiligung durch das Abschmelzen der Zinszusatzreserve ist kurzfristig bei den Lebensversicherern und damit auch bei deren bAV noch nicht erwartbar", so Maximilian Happacher, neuer Vorsitzender der DAV, beim Pressegespräch. Die 2022 schlagartig veränderte Lage bei der Inflation und dem darauf reagierenden Zinsumfeld wirkte sich erstmals seit ihrer Einführung reduzierend auf die Zinszusatzreserve (ZZR) der Versicherer aus. Während 2021 noch ein um 16 Basispunkte sinkender Referenzzins und eine damit verbundene Zuführung von zehn Milliarden Euro zur ZZR zu verzeichnen waren, sank die ZZR 2022 dank stagnierendem Referenzzins (1,57 Prozent) um rund vier Milliarden Euro auf nunmehr 92 Milliarden Euro.

"Wir gehen angesichts der derzeitigen Entwicklung davon aus, dass der Referenzzins auch dieses Jahr stabil bleibt", so Happacher, im Hauptberuf Vorstandsmitglied Lebensversicherung der Ergo International. Unter diesen Umständen sei 2023 ein vergleichbarer Rückgang der ZZR wie im Vorjahr zu erwarten. Insgesamt habe die neue Zinssituation zu veränderten Voraussetzungen für die Versicherungswirtschaft geführt. "Mittel- bis langfristig werden auch die Lebensversicherer von den gestiegenen Zinsen profitieren", ist Happacher überzeugt. Die DAV hatte für die Beibehaltung des Höchstrechnungszinses der Lebensversicherer von 0,25 Prozent bis 2024 plädiert.

ZZR gleicht stille Lasten kurzfristig nicht aus
Aktuell hätten sich aber durch langlaufende festverzinsliche Wertpapiere und das geänderte Zinsumfeld vermehrt stille Lasten in der HGB-Bilanz ergeben – branchenweit Ende 2022 rund 100 Milliarden Euro. "Das gleicht die vergleichsweise langsam freiwerdende ZZR kurzfristig nicht aus", so Happacher. Diese stillen Lasten seien aber grundsätzlich kein Problem für die Unternehmen, da die Lasten sich durch das Halten der Papiere bis zur Endfälligkeit auflösen würden.

Nur bei Liquiditätsbedarf, der erheblich höher als erwartet wäre, würden sie vor Fälligkeit freigesetzt werden müssen. "Das sehen wir derzeit in der Lebensversicherung aber in der Breite nicht, zumal sich die Stornoquoten über die letzten Jahre sehr stabil auf einem niedrigen Niveau bewegen", fügte der DAV-Chef hinzu. Auch 2022, als die Verunsicherung in der Bevölkerung durch die starke Inflation größer war, hatte der Branchenverband GDV auf eine Stornoquote von rund 2,6 Prozent verwiesen. "Das ist nur knapp über dem Wert von 2020 und 2021 und sogar unter dem von 2019, als sie bei 2,68 Prozent lag“, ordnete Happacher die Entwicklung ein.

Beim Blick auf die Solvenzquote der Lebensversicherer zeichnet sich für die DAV ein sehr positives Bild ab. Hintergrund: Die Solvenzquote beschreibt das Verhältnis der Eigenmittel zu den Verpflichtungen gegenüber Versicherten sowie anderen Leistungsempfängern im Risikofall und sollte bei mindestens 100 Prozent liegen. Die Branche hatte 2022 laut Assekurata eine Solvenzquote ohne Übergangsmaßnahmen inklusive Volatilitätsanpassung von 345,8 Prozent (Vorjahr: 283,8 Prozent). "Das ist ein überaus solider Wert", so Happacher. (dpo)