Immer mehr Deutsche mit Schuldenproblemen
Die Schocks der letzten Jahre fressen sich allmählich durch die deutsche Wirtschaft: Eine zunehmende Zahl an Menschen in Deutschland kommt nicht mehr über die Runden.
Während die zeitweise Spendierfreudigkeit der Regierung und enorme private Ersparnisse finanzielle Probleme zunächst unter Kontrolle gehalten hatten, führen das Zurückfahren der staatlichen Unterstützung und der stetige Kaufkraftverlust durch Inflation und hohe Zinsen nun dazu, dass immer mehr Haushalte überfordert sind.
Wegen der Größenordnung des Problems sind es nicht mehr nur die Geringverdiener oder Bürgergeldempfänger, die Hilfe benötigen: Organisationen, die im ganzen Land Hilfe leisten, berichten von einer gestiegenen Nachfrage vonseiten einer Bevölkerungsgruppe, die gemeinhin als Mittelschicht gilt.
"Von Verschuldung sind immer mehr Menschen betroffen, die früher nicht oder selten zum Klientel der Beratungsstellen gehörten – also Leute mit einem sicheren Job, Selbstständige oder auch Menschen mit Wohneigentum", sagt Roman Schlag, Fachreferent für Schuldnerberatung beim Caritasverband für das Bistum Aachen.
Ursachen für die Verschlechterung sind die Pandemie und der russische Angriff auf die Ukraine. Die Pandemie hat viele Arbeitnehmer in finanzielle Bedrängnis gebracht, während der Wegfall des billigen russischen Erdgases Deutschland vom Wachstumsmotor Europas zum Bremsklotz werden ließ.
Eine Rezession konnte zwar gerade noch vermieden werden. Aber für 2024 wird nur ein leichter Anstieg der Wirtschaftsleistung prognostiziert, unter anderem weil die Einkommen der Verbraucher noch den Preisauftrieb der letzten Jahre aufholen müssen. Die Schuldenaversion von Finanzminister Christian Lindner schränkt den Spielraum für Hilfen aus dem Haushalt ein.
Laut Creditreform wurden im vergangenen Jahr etwa 5,65 Millionen Menschen als überschuldet eingestuft. Der Inkassodienstleister geht davon aus, dass dies der erste Anstieg seit 2019 ist, wenn man die statistischen Auswirkungen der jüngsten Gesetzesänderungen berücksichtigt.
Nachfrage bei Schuldnerberatern steigt
Eine Umfrage unter mehr als 600 Schuldnerberatungsstellen, die im April und Mai durchgeführt und diese Woche veröffentlicht wurde, ergab, dass mehr als die Hälfte der Befragten eine gestiegene Nachfrage im Vergleich zum Vorjahr verzeichneten. Die neuesten offiziellen Statistiken zeigen, dass die Insolvenzen im Februar im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent gestiegen sind.
In Österreich gab es laut dem Verband der Schuldnerberater im vergangenen Jahr einen Anstieg der Erstkontakte um 17 Prozent auf den höchsten Stand seit 2011. Clemens Mitterlehner, der Leiter der Gruppe, sagte, es gebe Anzeichen für einen weiteren Anstieg im Jahr 2024.
Auch die Ursachen sind im Wandel begriffen. Während die Lebenshaltungskosten bis vor Kurzem kaum eine Rolle spielten, wurden sie 2023 von zwölf Prozent der neuen Kunden genannt – im Vorjahr waren es noch fünf Prozent. Für Frauen ist dieser Faktor sogar noch wichtiger.
Gefährliche Anreize für Ratenzahlungen
Erschwerend kommt hinzu, dass es vor allem für jüngere Verbraucher immer mehr "Jetzt kaufen, später bezahlen"-Optionen gibt, mit denen sie Online-Einkäufe in Raten abbezahlen können. "Wir haben so gut wie keine Gläubigerliste mehr, in der nicht ein solches Bezahlsystem vertreten ist", sagt Marco Rauter, Schuldnerberater bei der AWO in Berlin-Neukölln.
Für unzählige andere, die Rat brauchen, haben sich die Probleme über Jahre hinweg aufgebaut. Viele Selbstständige, die durch die Corona-Maßnahmen ihr Einkommen verloren haben, müssen nun einen Teil der staatlichen Unterstützung zurückzahlen, die sie damals erhalten haben. Und einige, die in Vollzeit beschäftigt waren, haben zwar ihren Arbeitsplatz behalten, aber ihre Arbeitszeit wurde reduziert — was zu einer Kürzung des Gehalts um bis zu 40 Prozent führte.
Der darauf folgende Anstieg der Inflation wurde noch nicht vollständig durch Lohnerhöhungen ausgeglichen.
Eine ähnliche Dynamik ist im Unternehmenssektor zu beobachten, wo die Insolvenzen im April einen Rekordwert erreichten, was als Nachholeffekt zu werten ist, nachdem billige staatliche Kredite den Unternehmen geholfen hatten, die Pandemie-Einschränkungen zu überstehen.
"Diese Hilfen müssen jedoch nun in einem anhaltend schwierigen Umfeld zurückgezahlt werden", sagt Steffen Müller, Leiter der Insolvenzforschung beim Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. "Es verwundert nicht, dass das viele schwächere Unternehmen überfordert."
Finanzieller Spielraum wird immer geringer
Wie und wann sich dies auf die Haushalte auswirkt, ist schwer zu sagen, da sich eine Überschuldung infolge von Arbeitslosigkeit erst mit erheblicher Verzögerung bemerkbar macht. Und der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen.
Heutzutage ist der finanzielle Spielraum jedoch viel geringer und selbst ein vorübergehender Jobverlust kann zu finanziellen Engpässen führen, so Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. "Normalerweise lässt sich da viel abfedern und federt sich auch ab", sagt Hantzsch. "Aber in diesem Umfeld, mit konstanten Kosten durch die Inflation, durch das hohe Zinsniveau, durch immer noch relativ hohe Energiekosten in manchen Bereichen, da wird das deutlich schwieriger als früher." (mb/Bloomberg)