Betriebsschließungspolicen: Anbieter geraten unter Zugzwang
Bei behördlich angeordneten Betriebsschließungen wegen des Corona-Virus wollen die meisten Versicherer weiter nur einen Teil der vereinbarten Leistung zahlen. Doch das Gutachten eines OLG-Richters lässt aufhorchen.
Die meisten Versicherer wollen den vereinbarten Versicherungsschutz bei Betriebsschließung (BSV) nicht für den Fall von Pandemien angewendet wissen. Ihre Argumente sind dabei in aller Regel dieselben: Gezahlt wird nur, wenn die zuständige Behörde den konkreten Betrieb wegen Corona-Fällen geschlossen hat und/oder Covid-19 als ganz neue Erkrankung in den AVB aufgelistet ist (FONDS professionell ONLINE berichtete).
Dennoch hatte die Versicherungskammer Bayern in Süddeutschland zusammen mit der Allianz und der Haftpflichtkasse (HK) einem Kompromiss zugestimmt: Die Versicherer zahlen freiwillig zwischen 10 und 15 Prozent der bei Betriebsschließungen jeweils vereinbarten Tagessätze (FONDS professionell ONLINE berichtete). Mehrere Gesellschaften sind dem Kompromiss inzwischen beigetreten, darunter R+V, Zurich, Axa, Nürnberger und Mannheimer. Die meisten wollen nicht nur Betriebe in Bayern auf diese Weise entlasten, sondern bundesweit.
Helvetia geizt weiter bei Entschädigung
Inzwischen wackelt der Kompromiss aber zusehends. Zu klar scheint die Leistungspflicht mehrerer Versicherer in deren AVB zu sein. Beispiel Helvetia: Gemäß den Bedingungen (BS-21-0801) des Versicherers wird beispielsweise entschädigt, wenn die zuständige Behörde nach Infektionsschutzgesetz (IfSG) den Betrieb schließt. "Alle meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind in den Bedingungen abschließend aufgezählt", heißt es in einer Antwort an einen Kunden, der eine Schadenanzeige geschickt hatte. Aber: "Da das Corona-Virus nicht aufgeführt ist, sind durch dieses Virus ausgelöste Betriebsschließungsschäden nicht versichert."
Etwaige Änderungen im IfSG spielten also nach Auslegung der Helvetia keine Rolle. Maßgeblich sei "alleine die abschließende Aufzählung der auslösenden Erreger in den Bedingungen", heißt es in der Ablehnung weiter, zu der die Helvetia gegenüber der Redaktion keine Stellung nehmen wollte.
Seither sind fast zweieinhalb Monate vergangen. Dem Kompromiss hat sich die Helvetia bis heute verweigert. Wie der Branchendienst "versicherungstip"berichtet, hat sie versicherten Hotels und Gaststätten aber zwischenzeitlich ein Vergleichs- und Vertragsänderungsangebot unterbreitet. Ihnen werde "eine Zahlung angeboten, die sich am entgangenen monatlichen Rohertrag orientiert". Allerdings wurden in einem Fall nur 6,3 Prozent der Versicherungssumme offeriert, also rechnerisch satte 58 Prozent weniger als beim bayerischen Kompromiss.
Bedingungen der Haftpflichtkasse deuten auf Leistungspflicht
Ein weiterer Fall: Die Haftpflichtkasse (HK) in Darmstadt hatte sich als Mitinitiatorin des bayerischen Kompromisses hervorgetan. "Vertragsgemäß zahlen wir nur, wenn im versicherten Betrieb ein versicherter Erreger aufgetreten ist und der Betrieb aus diesem Grund geschlossen wurde", sagt Torsten Wetzel, Vorstand für Betrieb und Schaden der Haftpflichtkasse, auf Nachfrage. In anderen Fällen würden freiwillig 15 Prozent der versicherten Tagessolls entschädigt. "Betroffene können sich auch jetzt noch direkt oder über ihre Vermittler bei uns melden", so Wetzel.
Das scheint wegen der wachsenden öffentlichen Kritik an dem Kompromiss zu haken. Nun legt Wetzel nach. "Die BSV greift, wenn im Betrieb selbst versicherte Infektionskrankheiten auftreten und dieser deshalb komplett geschlossen wird. Auf dieser Grundlage wurden die Versicherungsverträge mit unseren Versicherungsnehmern zu sehr moderaten Prämiensätzen geschlossen."
Diese Einschätzung überrascht. Die Bedingungen (AVB-BS – Stand 01.01.2015) der HK sagen etwas anderes: Gezahlt werden soll, wenn "die zuständige Behörde aufgrund des IfSG beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den versicherten Betrieb … zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen schließt" (Paragraf 1 Satz 1a). An keiner Stelle lässt sich in den Bedingungen allerdings ein Passus finden, wonach im konkreten Betrieb meldepflichtige Krankheiten oder Krankheitserreger aufgetreten sein müssen, ehe der Versicherer zahlen muss.
Anwälte werfen HK um "180 Grad“ gedrehte Kommunikation vor
Die Kritik am Verhalten der HK wird an anderer Stelle noch deutlicher. Die Anwaltskanzlei Wilhelm in Düsseldorf wirft der HK vor, die Corona-Deckungszusage auf der Homepage gelöscht zu haben, nachdem sich der Versicherer zuvor noch zu seiner Leistungspflicht bekannt hatte. Ein von der Kanzlei gesicherter Screenshot bestätige die Leistungszusage mit denselben Worten wie in den AVB. Nach Meinung der Anwälte habe sich die Kommunikation der HK um "180 Grad" gedreht, als klar wurde, dass es zu flächendeckenden Betriebsschließungen kommen würde. Die Aussagen im Netz seien daraufhin schlicht "verschwunden". Auf dieser Basis würden derzeit Klagen eingereicht, so die Kanzlei.
Die Aussichten vor Gericht sind noch nicht absehbar, da es bisher keine rechtskräftigen Urteile gibt. Ein Indiz liefert jetzt ein Privatgutachten von Professor Walter Seitz, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München a.D., über das auf einem Branchenportal berichtet wurde. "Die Versicherungsunternehmen sind vorliegend wegen des Auftretens des Corona-Virus und der daraus folgenden Massenschließungen zur Leistung der vereinbarten Entschädigung verpflichtet", stellt Seitz fest.
Erste Gerichtstendenzen deuten auf volle Leistung hin
Folgerung: Es könnte grundsätzlich ein uneingeschränkter Anspruch auf Zahlung der Versicherungssumme aus der BSV wegen der Untersagung der Öffnung von Gaststätten und Hotels bestehen. Zu diesem Schluss war schon das LG Mannheim in einem einstweiligen Verfügungsverfahren gekommen (Az.: 11 O 66/20 – nicht rechtskräftig). Eine individuelle Schließungsverfügung für die einzelnen Hotels sei nicht erforderlich. In diesem Sinne entschied inzwischen auch ein Pariser Gericht gegen die Axa Frankreich. Der Versicherer habe es zudem versäumt, im Versicherungsvertrag Pandemierisiken explizit auszuschließen.
"In den meisten AVB steht nicht, dass die behördliche Anordnung sich unmittelbar an das betroffene Unternehmen richten muss", bestätigt Tobias Strübing, Partner der Kanzlei Wirth Rechtsanwälte. Daher bleibe er bei seiner dringenden Empfehlung, Ablehnungen und Abfindungsangebote nicht ungeprüft hinzunehmen. (dpo)