Betriebsschließungspolicen: Richter lassen Gastwirte hoffen
Muss der Versicherer zahlen, wenn das Hotel oder Restaurant wegen Corona geschlossen wurde? Immer mehr Gerichte verneinen das. Nun scherte das OLG Karlsruhe aus und entschied diametral zum OLG Stuttgart. Das letzte Wort hat wohl der Bundesgerichtshof.
Die meisten Versicherer wollen den vereinbarten Versicherungsschutz bei Betriebsschließung (BSV) nicht für den Fall von Pandemien angewendet wissen. Der Streit mit versicherten Firmenkunden hat längst die Gerichte erreicht.
Bei vielen Versicherern sind die BSV-Bedingungen unklar formuliert. Entsprechend unterschiedlich fallen bislang die Urteile aus, die betroffene Gewerbekunden gegen ihre Versicherer angestrengt hatten. Bei den bisherigen Entscheidungen von Oberlandesgerichten (OLG) ging es zumeist für die Versicherer aus – auch weil sie bei Gefahr einer juristischen Niederlage großzügige Vergleiche anbieten.
Streit kumuliert bei AVB mit Auslegungsspielraum
Der Bundesverband Deutscher Versicherungsmakler (BDVM) sieht im Streit um die BSV vor allem drei Fallkonstellationen, die er kürzlich auf dem BDVM-Jahressymposium mit Beispielurteilen vorstellte:
- Klare Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB): Bei der Aufzählung der namentlich genannten Krankheiten wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass "ausschließlich" oder "nur" die nachfolgenden Krankheiten und Erreger versichert sind. Dann besteht kein BSV-Schutz für Corona-Betriebsschließungen, entschied unter anderem das Landgericht (LG) Osnabrück am 28. Mai 2021 (Az.: 9 O 2215/20) – und nun am 30. Juni auch das OLG Karlsruhe (Az.: 12 U 11/21).
- AVB mit Auslegungsspielraum: Diese AVB beziehen sich auf die in den Paragrafen 6 und 7 Infektionsschutzgesetz (IfSG) namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, wobei das Coronavirus im IfSG seit langem eingeschlossen ist. Demnach kann es BSV-Schutz geben, etwa bei der Mannheimer (Hostima) und der Helvetia. "Zweifel bei der Auslegung von AVB gehen aber zu Lasten des Versicherers", so Hans-Georg Jenssen, Geschäftsführender Vorstand des BDVM, auf dem Symposium des Verbands.
- AVB mit Öffnungsklauseln: Hier wird klar auf Krankheiten und Erreger Bezug genommen, die gerade noch nicht im IfSG aufgeführt sind. Man will auch solche Krankheiten und Erreger versicherungsmäßig abdecken. Hier gibt es keinen gerichtlichen Streit.
OLG Karlsruhe: Zusammenhang von IfSG-Verordnung und BSV-Schutz
Streit gibt es dafür massenhaft in der zweiten Fallgruppe. "Richtig ist, dass weder die AVB noch das Infektionsschutzgesetz das neuartige Coronavirus ursprünglich in dem Katalog der Krankheitserreger aufgeführt hatten", sagt Jenssen. Wenn jedoch – was die Verwaltungsgerichte bislang überwiegend anerkennen – diese Verweisungskette als ausreichende gesetzliche Grundlage für den Erlass der Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote bildet und damit zumindest eine mittelbare Aufnahme des neuartigen Coronavirus in das IfSG angenommen wird, müsse dies gleichfalls bei einer Verweisung der AVB auf das IfSG gelten, so der Jurist.
In diesem Zusammenhang ist das zweite Urteil des OLG Karlsruhe vom 30. Juni 2021 von Belang. Der 12. Senat hat klargestellt, dass der Versicherungsschutz sich nicht auf behördliche Einzelfallanordnungen bei im Betrieb aufgetretenen Infektionen beschränkt, sondern auch den "Lock-down" durch Verordnung der Landesregierung mit Wirkung zum 21. März 2020 umfasst. Diese Verordnung hat sich faktisch wie eine Betriebsschließung ausgewirkt (Az.: 12 U 4/21).
Intransparente AVB zulasten des Versicherers
Das Gericht sprach dem Heidelberger Hotelier 60.000 Euro aus seiner BSV zu und kassierte damit die Entscheidung der Vorgängerinstanz (LG Heidelberg; Az.: 2 O 156/20). Denn in den AVB wird mehrfach auf das IfSG Bezug genommen und bestimmt, dass eine Entschädigung für eine Betriebsschließung "beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger" geleistet wird, wobei in dem Katalog Covid-Erreger und -Erkrankung nicht aufgeführt waren.
Die Begrenzung des Schutzes auf einen abschließenden Katalog, welcher hinter dem Umfang des IfSG zurückbleibt, ist nach der Beurteilung des Senats nicht hinreichend klar und verständlich erfolgt, so dass die vom Versicherer vorgebrachte Begrenzung "wegen Verstoßes gegen das gesetzliche Transparenzgebot für Allgemeine Geschäftsbedingungen unwirksam ist", heißt es in der Urteilsbegründung.
Die in den AVB wiederholte Bezugnahme auf das IfSG vermittelt dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer den Eindruck, dass jede Betriebsschließung auf Grund des Gesetzes vom Versicherungsschutz erfasst sei. Dass der Schutz demgegenüber durch den abschließenden Katalog meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger eingeschränkt ist, wird dem Versicherungsnehmer nicht deutlich genug vor Augen geführt. Er erkennt nicht, dass der Katalog in den AVB bereits bei seiner Erstellung nicht mehr dem Stand des IfSG entsprach.
OLG Karlsruhe urteilt komplett anders als OLG Stuttgart
Folge: Die Unwirksamkeit der Klausel, die den Versicherungsschutz auf einen abschließenden Katalog von Krankheiten und Krankheitserregern begrenzt, führt dazu, dass gemäß der allgemeinen Regelung in den AVB jede Betriebsschließung "beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger" versichert ist. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung wurde die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) zugelassen.
Das Urteil knüpft in seiner Klarheit an die Entscheidung des Landgerichts München I vom 1. Oktober 2020 an, das einem Wirt in ähnlicher Situation volle Entschädigung zugesprochen hatte (Az.: 12 O 5895/20). In den AVB sei dort zwar eine Liste der erfassten Krankheiten enthalten gewesen, diese sei aber unvollständig. Das IfSG sei in den vergangenen 20 Jahren mehrfach geändert worden, neue Krankheiten und Erreger seien hinzugefügt worden. Dem Wirt sei es nicht zuzumuten, die Liste in den AVB mit jener des IfSG zu vergleichen, um herauszufinden, welche Krankheiten vom Schutz umfasst sind und welche womöglich nicht, so die Richter damals.
"Das OLG Karlsruhe hat sich diametral zum OLG Stuttgart gestellt", begrüßt Tobias Strübing, Partner der Kanzlei Wirth Rechtsanwälte, die Entscheidung. Das OLG Stuttgart hatte in mehreren Verfahren den Versicherungsschutz verneint, weil die BSV-Bedingungen zwar Entschädigung bei Betriebsschließungen infolge von "meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserregern" zusagten, Covid-19 allerdings nicht Teil der Aufzählung war. Daher falle eine Betriebsschließung aufgrund der Corona-Pandemie nicht unter den Versicherungsschutz, befanden die Stuttgarter Richter (Az: 7 U 351/20 und 7 U 335/20).
Letzte Instanz BGH – oder Vergleichsangebote der Versicherer
Letztlich wird abschließend auch im Fall des OLG Karlsruhe wohl der BGH entscheiden. "Wir sind optimistisch, dass sich auch dort die Rechtsauffassung bestätigen wird, die wir als Kanzlei von Beginn an vertreten haben, nämlich: In den allermeisten Fällen besteht bedingungsgemäß Versicherungsschutz", so der Fachanwalt für Versicherungsrecht weiter.
Die Versicherer verfolgten die Strategie, sich vorher zu vergleichen, wenn sich Entscheidungen zugunsten der Kunden abzeichnen, warnt BDVM-Chef Jenssen. Dies sei schon mehrfach praktiziert worden. Diesen Eindruck hat auch Mark Wilhelm von der Kanzlei Wilhelm Partnerschaft von Rechtsanwälten, die über 700 BSV-Versicherte vertritt. "Sobald der Richter eine kundenfreundliche Entscheidung in Aussicht stellt, haben wir innerhalb von 24 Stunden ein Vergleichsangebot auf dem Tisch", sagt er. Daher würden derzeit über 90 Prozent der Prozesse, die positiv für die Versicherten ausgehen würden, durch Vergleich "gewonnen". (dpo)