Frau Meissner, welche Neuerungen und Chancen bringt das neue Jahr in der betrieblichen Altersvorsorge mit sich?

Henriette Meissner: Einige. Das alte Jahr geht, aber der Fachkräftemangel bleibt. Denn der große Aderlass, den die Generation Babyboomer durch den Eintritt in die Rente auslöst, setzt sich weiter fort. In den nächsten 15 Jahren werden rund 30 Prozent der Erwerbstätigen, das sind 12,9 Millionen Personen, in Rente gehen. Da nicht genug Nachwuchs da ist, sind Arbeitgeber gezwungen, ihre Attraktivität zu erhöhen: Eine arbeitgeberfinanzierte Betriebsrente und andere betriebliche Benefits stehen plötzlich im Fokus.

Die Babyboomer sind selbst noch einmal im Blickpunkt der bAV-Beratung: Kapital oder Rente, das ist hier die Frage?

Meissner: In der Tat benötigt diese große Zielgruppe noch einmal kompetente Beratung, denn ihre Versorgungsverträge enthalten häufig die Option, sich das Geld als Kapital oder Rente auszahlen zu lassen. Die Antwort, ob Kapital oder Rente besser passt, kann nur individuell ausfallen. "Alte" Direktversicherungen waren häufig reine Kapitalversicherungen und eben keine bAV, da Arbeitgeber die Anpassungsprüfpflicht der bAV vor 1999 vermeiden wollten. Da muss zur Geldanlage, gegebenenfalls dem Kauf einer Rente beraten werden. Gleichzeitig fallen Sparbeiträge weg, die womöglich für den dritten Lebensabschnitt neu eingesetzt werden sollten. Speziell für die Generation Gesellschafter-Geschäftsführer und den dort häufig anzutreffenden Pensionszusagen bedarf es passgenauer Lösungen.

Manche Fachkräfte können womöglich im Arbeitsleben gehalten werden, Stichwort Hinzuverdienstgrenzen?

Meissner: Zum 1. Januar 2023 werden die Hinzuverdienstgrenzen für Bezieher einer vorgezogenen Altersrente komplett entfallen und für Bezieher von gesetzlichen Erwerbsminderungsrenten deutlich angehoben. Das regelt das 8. SGB-IV-Änderungsgesetz, das am 1. Dezember im Bundestag verabschiedet wurde. Damit erhöht sich auch für diese Arbeitnehmer-Zielgruppen der Beratungsbedarf. Wer die neue Flexibilität beim Übergang in den Ruhestand gezielt nutzt, kann seine bAV-Ansprüche noch erhöhen.

Wie funktioniert das konkret?

Meissner: Indem ein Anreiz zur Weiterarbeit erfolgt und dennoch Anspruch auf eine gesetzliche Vollrente vor der Regelaltersrente zugestanden wird. Wer zum Beispiel nach 45 Jahren als besonders langjährig Versicherter seine Rente abschlagsfrei beziehen kann (für 1960 Geborene zum Beispiel mit 64 Jahre und 4 Monate möglich) oder nach Paragraf 187a SGB VI seine Abschläge ausfinanziert hat, bezieht dann seine abschlagsfreie Rente plus Gehalt in Voll- oder Teilzeit. Und natürlich auch die Betriebsrente, die nach Paragraf 6 BetrAVG ja bei einer Vollrente wegen Alters auf Verlangen des Rentners zu zahlen ist.

Ist das zugleich auch ein willkommener Inflationsausgleich durch zusätzliches Einkommen?

Meissner: Im Prinzip ja, denn das kann in Zeiten hoher Inflation besonders attraktiv sein, wenn beispielsweise bei Pensionszusagen der Arbeitgeber die Anpassung der bAV nach Kaufkraftverlust erbringen muss. Während nämlich der Anwärter aufgrund der Inflation jährlich einen Wertverlust seiner Anwartschaft ohne Ausgleich hinnehmen muss, wird dieser Inflationsverlust dem Betriebsrentner nach Paragraf 16 Abs. 1 und 2 BetrAVG alle drei Jahre ausgeglichen (Anpassungsprüfpflicht). Das kann auch schnell Abschläge durch den vorzeitigen Bezug ausgleichen.

Bei Direktversicherungen und Pensionskassenzusagen scheint dieses Argument nicht zu stechen. Wie ist da die Lage?

Meissner: Da entfällt die Anpassungsprüfpflicht in der Tat häufig. Voraussetzung: Sämtliche auf den Rentenbestand entfallenden Überschussanteile werden ab Rentenbeginn zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet. 

Die leidige Doppelverbeitragung für gesetzlich versicherte Betriebsrentner bleibt auch im neuen Jahr. Welcher Freibetrag gilt aktuell?

Meissner: Nach einer "Nullrunde" 2022 wird der Freibetrag für die gesetzliche Krankenversicherung zum 1. Januar 2023 wieder angehoben – von 164,50 Euro auf 169,75 Euro (für Kapitalzahlungen von 19.740 Euro auf 20.370 Euro). Das heißt: Eine monatliche Betriebsrente von 169,75 Euro bleibt immer GKV-beitragsfrei, bei höherer Rente wird nur für Beträge über dem Freibetrag GKV-Beitrag fällig. Gleichzeitig steigen allerdings auch die Zusatzbeiträge bei vielen Krankenkassen. In der gesetzlichen Pflegeversicherung gibt es jedoch keinen Freibetrag.

Im neuen Jahr steigen auch die Regelsätze für Hartz-IV-Leistungen, künftig Bürgergeld genannt? Hat das Auswirkungen auf die bAV?

Meissner: Ja. Durch Einführung des Bürgergeldes springt die Regelbedarfsstufe 1 ab 2023 von bisher 449 Euro auf 502 Euro pro Monat. Das hat positive Auswirkungen auf die Anrechnung von Leistungen einer freiwilligen zusätzlichen Altersversorgung (bAV, Riester, Basisrente, freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung) auf die Grundsicherung im Alter. Ab 1. Januar sind nicht mehr maximal 224,50 Euro anrechnungsfrei, sondern 251 Euro (Paragraf 82 Abs. 4 SGB XII). Damit lohnt sich bAV auch bei Niedrigverdienern, die in die Grundsicherung fallen könnten, noch mehr, insbesondere eine arbeitgeberfinanzierte Betriebsrente (gefördert nach Paragraf 100 EStG).

Ist 2023 mit weiteren neuen Regelungen zu rechnen, nachdem schon in der Vergangenheit manches erneuert wurde?

Meissner: Auf jeden Fall. Zunächst könnte es schon am 17. Januar zu mehreren wegweisenden Urteilen des Bundesarbeitsgerichtes in Erfurt rund um das Thema Kapital oder Rente kommen. Dies hätte Auswirkungen auf die künftige Ausgestaltung von bAV-Zusagen. Zudem hat das BMAS einen "Fachdialog Betriebsrenten" eröffnet, der Verbesserungen zur Verbreitung der bAV mit entsprechender gesetzgeberischer Begleitung 2023 bringen soll. Im Fokus wird voraussichtlich das Lieblingsprojekt des BMAS, das Sozialpartnermodell, stehen. Es wird 2023 spannend wie in keinem der letzten Jahre.

Vielen Dank für das Gespräch. (dpo)