FONDS professionell Deutschland, Ausgabe 2/2022

Sitz des insolventen Zahlungsdienst- leisters Wirecard: Ein eröffnetes Verfahren nach dem Kapitalanleger- Musterverfahrensgesetz richtet sich auch gegen die Wirtschaftsprüfungs- gesellschaft Ernst & Young. Ein Urteil für alle Das Landgericht München I hat im Fall Wirecard ein Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz eröffnet. Damit dürfen geschädigte Investoren auf Schadenersatz hoffen. D as Urteil des Landgerichts München I, das am 5. Mai dieses Jahres erging, schien für geschädigte Wirecard-Aktionäre gar nichts Gutes zu verheißen. Der Insol- venzverwalter des im Juni 2020 zusammen- gebrochenen Zahlungsdienstleisters mit Sitz in Aschheim, Michael Jaffé, hatte sich in einem Prozess durchgesetzt.Die Münch- ner Richter gaben seiner Klage statt und erklärten die Wirecard-Bilanzen der Jahre 2017 und 2018, die die Wirtschaftsprü- fungsgesellschaft Ernst & Young (EY) testiert hatte, für nichtig. Weil damit auch die damals gefassten Di- videndenbeschlüsse ungültig sind, könnte der Insolvenzverwalter die für die betreffen- den Jahre ausgezahlten Summen von den Aktionären zurückfordern. Doch weil jede Medaille zwei Seiten hat, bringt das Urteil des Landgerichts (LG) München I auch einen Pluspunkt mit sich: Die Entscheidung kann sich positiv auf das bevorstehende Verfahren nach demKapitalanleger-Muster- verfahrensgesetz (KapMuG) auswirken. Um für geschädigte Wirecard-Anleger Schadenersatz herauszuholen, hat die Tilp Rechtsanwaltsgesellschaft aus Kirchentel- linsfurt bei Tübingen bereits vor geraumer Zeit einen Vorlagebeschluss beim LG München gestellt mit dem Ziel, ein KapMuG-Verfahren unter anderem gegen EY einzuleiten. Im März 2022 erließen die Richter den Beschluss ohne Änderungen und eröffneten damit das Verfahren vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht. Eine Art „Sammelklage“ Das Kapitalanleger-Musterverfahrensge- setz ermöglicht es Privatanlegern, institutio- nellen Investoren und anderen Unterneh- men, die sich von einem Anwalt vertreten lassen, in einer Art „Sammelklage“ vor Gericht Schadenersatz zu fordern (siehe Kasten nächste Seite) – und zwar dann, wenn sie sich aufgrund von mutmaßlich falschen, irreführenden oder unterlassenen Kapitalmarktinformationen um ihr Geld gebracht sehen – wie im Fall Wirecard. „Unser Vorlagebeschluss hat insgesamt 28 Seiten und umfasst rund 70 sogenannte Feststellungsziele auf der Klägerseite“, sagt Martin Kühler, Rechtsanwalt bei der Kanz- lei Tilp. „Diese Feststellungsziele stellen quasi das Arbeitsprogramm für das Verfah- ren dar“, erklärt Kühler. Über jeden einzel- nen Punkt muss das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) entscheiden. So hat das Gericht unter anderem zu beant- worten, ob EY sich der Beihilfe zu unter- lassenen und falschen Ad-hoc-Mitteilungen schuldig gemacht hat. „Auch die Richtigkeit der Geschäfts- berichte und Bilanzen der Wirecard AG ist ein elementarer Bestandteil unseres Vor- lagebeschlusses“, so Anwalt Kühler. Und in dieser Frage haben die Richter des LG München I ihren Kollegen am BayObLG zumindest hinsichtlich der Jahresabschlüsse 2017 und 2018 schon mal die Marschrich- tung vorgegeben. Doch bis zum ersten Verhandlungstag kann es noch ein wenig dauern. „Mit der Eröffnung eines KapMuG-Verfahrens wer- den alle weiteren Klagen zu der betref- fenden Rechtssache ausgesetzt“, sagt Peter Mattil, Inhaber der gleichnamigen Münch- ner Kanzlei für Bank- und Kapitalmarkt- recht. Kapitalmarktrechtliche Streitigkeiten STEUER & RECHT Wirecard-Verfahren 436 fondsprofessionell.de 2/2022 FOTO: © TINA7SI | STOCK.ADOBE.COM

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